Aktuell wird viel über einen möglichen Zusammenhang von Vitamin D und MS diskutiert. Es gibt Hinweise darauf, dass Vitamin D das Risiko verringern könnte, an MS zu erkranken. Was halten Sie von dieser Theorie?
Dr. med. Lisa-Ann Gerdes: Es gibt zunehmend interessante Berichte, die diesen Zusammenhang beleuchten und darüber diskutieren, dass Vitamin D-Mangel möglichweise eine Rolle bei der Entstehung der Multiplen Sklerose spielen könnte. Jedoch bleibt es weiterhin eine spannende Frage, ob Vitamin D-Mangel die Ursache oder eine Folge der Multiplen Sklerose ist. Wir finden bei unseren MS-Patienten sehr häufig niedrige Vitamin-D-Werte, vor allem in den Wintermonaten. Allerdings haben ca. 60 % aller Deutschen niedrige Vitamin D-Werte.
Bei der Untersuchung einer großen Gruppe von eineiigen Zwillingen, bei denen einer an MS erkrankt und der andere gesund ist, konnten wir signifikant niedrigere Werte bei dem an MS erkrankten Zwilling nachweisen. Die Zwillinge gaben keine Unterschiede in der Sonnenexposition an, so dass zumindest der Verdacht eines Zusammenhanges von Vitamin D-Mangel mit der Erkrankung besteht.
Darüber hinaus gibt es viele Untersuchungen, die Zusammenhänge von Vitamin D-Mangel und Krankheitsaktivität beschreiben: So legt eine aktuelle Auswertung von klinischen Daten, eine Wechselbeziehung zwischen einem niedrigen Vitamin D-Wert und dem Schweregrad einer Sehnerv-Entzündung, einer häufigen ersten Symptomatik bei MS Patienten, dar. Auch konnte in tierexperimentellen Untersuchungen eine Wirkung von hohem Vitamin D auf Reparaturvorgänge im geschädigten Nervensystem, die sogenannte Remyelinisierung nachgewiesen werden. Eine andere kürzlich publizierte interessante Studie zeigte, dass mäßige UV-B-Bestrahlung der Haut Entzündungsprozesse dämpfen und schädliche Autoimmunreaktionen reduzieren kann.
Wenn bereits eine MS besteht, kann Vitamin D trotzdem hilfreich sein? Falls ja, wie?
Eine Studie mit über 400 MS Erkrankten zeigte, dass bei denen, die bei der Erstmanifestation der Erkrankung ("Klinisch Isoliertes Syndrom") einen normalen Vitamin D-Wert hatten, die Erkrankung langsamer fortschritt als bei denen, deren Vitamin D-Wert zu diesem Zeitpunkt erniedrigt war. Der günstige Effekt von Vitamin D betraf die klinische Krankheitsaktivität (Schubrate), die Krankheitsprogression (Fortschreiten der neurologischen Behinderung) und die Entzündungsherde im Kernspintomogramm. Schlussfolgernd wurde ein niedriger Vitamin D-Wert als Risikofaktor für Krankheitsaktivität und Krankheitsprogression gewertet. Aus diesen Daten kann allerdings nicht geschlossen werden, dass man mit einer Vitamin D-Substitution einen "therapeutischen" Effekt auf den Krankheitsverlauf bewirken kann. Die Beantwortung dieser schwierigen Frage erfordert weitere Studien.
Der Vitamin D-Spiegel in nördlichen Ländern soll im Durchschnitt niedriger sein als in Äquatornähe. Stimmt das? Wie wird er bestimmt, wann ist er ausreichend und wie kann ein eventueller Mangel ausgeglichen werden?
Ja, es gibt ein "Nord-Süd-Gefälle". Vor allem in Nordeuropa kann sehr häufig und insbesondere in den Wintermonaten ein Vitamin D Mangel nachgewiesen werden. Vitamin D wird zu 90% durch die Sonneneinstrahlung auf die Haut im Körper aktiviert und nur zu ca. 10 % über die Ernährung aufgenommen. Den Vitamin D-Spiegel, also 25-Hydroxyvitamin D, kann man einfach im Blut bestimmen lassen, der Normalwert liegt über 50 nmol/l.
Ab dem 65. Lebensjahr sinkt die körpereigene Vitamin D-Syntheseleistung deutlich, so dass bei älteren und immobilen Menschen, die sich wenig im Freien aufhalten, an eine ausreichende Vitamin D-Substitution gedacht werden sollte. Vitamin D plus Kalcium ist ja auch ein wichtiger Bestandteil einer Osteoporoseprophylaxe bei immobilen chronisch-kranken Patienten oder MS-Patienten, die häufig Kortison erhalten. Zudem leiden viele MS Erkrankte an Hitzeunverträglichkeit und meiden daher die Sonne, für diese Menschen sollte ebenfalls eine Vitamin D-Substitution erwogen werden.
Gibt es ein Risiko bei zu viel Vitamin D? Welche Dosierung würden Sie MS-Erkrankten empfehlen?
Eine Überdosierung kann zu einem Hyperkalzämie-Syndrom (Übelkeit, Erbrechen, Mattigkeit, Kopfschmerzen) führen sowie zu Ablagerung von Kalzium in der Niere und den Blutgefäßen. Eine Überdosierung kann bei einer Dosis von mehr als 40.000 IE (Internationale Einheiten)/Tag über ca. 1-2 Monate entstehen. Da Vitamin D eine lange Halbwertszeit hat, sind erhöhte Serumspiegel über mehrere Wochen nachweisbar. Nur bei einem nachgewiesenem Mangel empfehlen wir eine Dosierung von 1000 IE/Tag.
Welche Kriterien sollten bei der Auswahl eines geeigneten Präparates berücksichtigt werden? Und können auch günstige, freiverkäuflich und niedrig dosierte Präparate genommen werden?
Die Auswahl eines geeigneten Präparates richtet sich unter anderem danach, ob eine tägliche oder wöchentliche Einnahme, Kautabletten, Tropfen oder Kapseln favorisiert werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sieht eine pharmakologische Wirkung ab Tagesdosen von 25 µg (1.000 IE.) Vitamin D als erwiesen an und stuft entsprechend dosierte Produkte daher als Arzneimittel ein, die dann apothekenpflichtig sind. Hoch dosierte Vitamin D-Präparate, die z. B. 20.000 IE enthalten, sind verschreibungspflichtig.
Frei verkäufliche Präparate haben eine geringere Dosis (bis 800 IE) und sind zudem häufig mit anderen Vitaminen oder Mineralstoffen kombiniert, so dass man hier genau prüfen und vergleichen sollte. Auf keinen Fall sollte man kombinierte Präparate häufiger als in der Packungsbeilage angegeben einnehmen, um eine höhere Vitamin D Einnahme zu erzielen.
Gibt es Wechselwirkungen von Vitamin D-Präparaten mit Medikamenten, die zur Behandlung von MS eingenommen werden?
Nein, es sind keine Wechselwirkungen bekannt.
Kann ein MS-Erkrankter seinen Vitamin D-Spiegel ausschließlich mit Sonnenbaden (Natur oder Solarium) oder Aktivität an der frischen Luft positiv beeinflussen?
In unseren Breitengraden reicht die Sonnenstärke nur von März bis Oktober aus, um einen ausreichenden Vitamin D-Wert zu erzielen. Dann kann jedoch durch Aufenthalt im Freien mit unbedecktem Gesicht, Händen und Armen in relativ kurzer Zeit (5-25 min, abhängig von Breitengrad und Hauttyp) genug Vitamin D aktiviert werden. Auf keinen Fall sollte man für die Vitamin D-Synthese eine Hautrötung oder gar einen Sonnenbrand riskieren (Schädigung der Haut, verbunden mit Hautkrebsrisiko). Vitamin D kann vom Körper im Fettgewebe gespeichert werden und in den Wintermonaten wieder in den Blutkreislauf abgegeben werden, so dass gefährliche Vitamin D-Mangelerscheinungen eher selten sind.
Ein Solarium-Besuch lohnt sich nicht, denn hier bräunt hauptsächlich UV-A-Licht. Das für die Vitamin D-Bildung notwendige UV-B-Licht wird von Solarien nicht oder nur in sehr geringen Anteilen ausgestrahlt!
Der DMSG-Bundesverband bedankt sich für das Interview bei Dr. med. Lisa-Ann Gerdes, Institut für Klinische Neuroimmunologie der LMU München, Klinikum Großhadern (Direktor: Prof. Dr. med. Reinhard Hohlfeld, Vorsitzender im Ärztlichen Beirat des DMSG-Bundesverbandes).
Redaktion: DMSG Bundesverband e.V. - 04. Juli 2014